Jonathan Bloxham

Musik wie ein impressionistisches Gemälde

Oper
24. August 2022

Dramaturgin Johanna Mangold im Gespräch mit Jonathan Bloxham, dem musikalischen Leiter der Produktion «Herzog Blaubarts Burg».

Jonathan Bloxham, Foto: Kaupo Kikkas
Foto: Kaupo Kikkas

Johanna Mangold (JM): «Herzog Blaubarts Burg» ist eine Oper von Béla Bartók mit einem Libretto von Béla Balázs. Sie wurde 1911 komponiert, 1918 in Budapest uraufgeführt. Wie lässt sich die Musik in Béla Bartóks «Herzog Blaubarts Burg» in Worten beschreiben? Was ist das Besondere an Bartóks Musik?

Jonathan Bloxham (JB): Die Musik von Béla Bartók ist schon über ein Jahrhundert alt! Trotzdem klingt sie immer noch sehr fortschrittlich. Das ist ein Zeichen dafür, wie kreativ und innovativ Bartók als Komponist war. Wenn man sich mit seinem Leben und Schaffen befasst, dann wissen wir, dass er sich sehr für traditionelle ungarische Volkmusik interessiert hat. Gleichzeitig war er darauf bedacht, dass seine Hauptwerke nicht zu volkstümlich anmuten. Die Musik im «Blaubart» klingt also nicht nach Volksliedmusik. Die Oper wirkt eher wie ein impressionistisches Gemälde: Es geht weniger darum, was es darstellt, sondern wie es sich präsentiert. Welche innere Stimmung es vermittelt. Darum geht es in der Oper.

 

JM: Béla Bartóks Oper ist ein musikalisches wie literarisches Meisterwerk, das zu Unrecht viel zu selten gespielt wird. Auf was kann man als Zuhörer achten, wenn man seine Musik zum ersten Mal hört?

JB: In Opern spricht man ja gerne von Leitmotivtechnik, also einer Technik, bestimmte Melodien immer wiederkehren zu lassen. Beim «Blaubart» kann man zwar von Leitmotiven im strengen Sinne nicht mehr sprechen – da sie nicht auf Melodien aufgebaut sind – aber worauf man als Zuhörer achten kann, ist seine Verwendung von Intervallen. Sehr deutlich hörbar ist zum Beispiel die kleine Sekunde, ein enges Intervall von zwei Halbtönen, das unangenehm, fies klingt. Es zieht sich durch das ganze Werk hindurch. Bartók verwendet es als Blutmotiv. Wenn man dieses Intervall umdreht wird aus der kleinen Sekunde eine grosse Septe. In dieser Oper ist es das klangliche Symbol für Liebe. Beide Intervalle sind im Laufe der Oper immer wieder zu hören. Eine Metapher auch dafür, dass ein Aspekt oder Konflikt immer zwei Seiten hat, was tief in den Kern dieses Werkes führt.

 

JM: Du hast eben die Leitmotivtechnik erwähnt. Gibt es in der Musik Bartóks weitere Stile und Einflüsse aus dem 19. Jahrhundert?

JB: Ja, die gibt es. Bartók ist mit diesen aber sehr einfallsreich und originell umgegangen. Was er aber definitiv aus vergangenen Jahrhunderten mitgenommen hat, ist die Entwicklung von Motiven. Ich gebe ein Beispiel: Wenn wir zur zweiten Tür, zur Waffenkammer gelangen, erklingt in den Trompeten ein prägnantes militärisches Thema. Kurz danach hören wir das gleiche Thema nochmal, allerdings in langsamen Tempo. Es wird zu einer wunderschönen Melodie, die Judith singt. Ein musikalisches Thema in veränderter Form zu wiederholen, anstatt ein neues einfach dranzuhängen, war eine verbreitete Kompositionstechnik aus der Romantik.

 

JM: Du sprachst von der Fortschrittlichkeit in Bartóks Musik. Auf was beziehst du dich?

JB: Zum Beispiel auf die dramaturgische Struktur des Werkes. Die Oper ist nämlich nicht in Akte eingeteilt, sondern besteht aus einem einzigen durchkomponierten Akt. Das war 1911 sehr innovativ. Die Komposition selbst beschreibt einen grossen Bogen. Bartók war besessen vom Goldenen Schnitt, was bedeutet, dass der Höhepunkt genau an dem Punkt liegt, wo sich auch der Goldene Schnitt befinden würde. Inhaltlich entspricht die Stelle der fünften Tür, deren Öffnung in hellem C-Dur erstrahlt.

 

JM: In der Oper geht man allgemein davon aus, dass die Musik Träger von Gefühlen und Handlung ist. Welche Funktion hat die Musik im «Blaubart»?

JB: Die Handlung in der Oper reduziert sich ja eigentlich auf die Öffnung der sieben Türen. Daran orientiert sich auch die musikdramaturgische Struktur des Werkes. Die Musik transportiert die Stimmung bei der Öffnung der Türen. Jede Tür hat einen eigenen musikalischen Charakter, den Bartók unglaublich gut beschreibt. Dieser Charakter drückt sich vor allem in der Instrumentation aus, die für mich das Atemberaubendste der gesamten Oper ist. Bartók war ein Meister der Orchestrierung. Er hat mit nur ganz wenigen Mitteln jeder Tür und dem, was hinter der Tür liegt, einen einzigartigen Klang verliehen.

 

JM: Die Türen sind also nicht einfach nur Türen im materiellen Sinne.

JB: Nein. Sie sind verbunden mit Blaubarts Seele, sie sind Teil von ihm. Blaubart und die Türen sind eins. Wenn man die einzelnen Szenen betrachtet, ist es faszinierend zu beobachten, wie die Musik auf die Präsenz von Judith reagiert. Zum Beispiel in der Gartenszene: Der Garten ist musikalisch ein Zaubergarten, ein Klanggedicht aus Tönen. Es spielen Klarinette und Horn. Durch Judiths Präsenz ändert sich der Grundton in der Musik. Sie wird unruhig, wirkt wie unterbrochen, gestört. Bei jeder Tür passiert das Gleiche: Jede Tür beginnt mit einer klaren Anfangsstimmung, die sich dann durch die Anwesenheit von Judith verändert.

 

JM: Du sprachst vorhin von dem Blutmotiv, das sich durch die gesamte Oper zieht. Interessant ist, dass sich Judith immer wieder auf das Blut bezieht, während Blaubart darauf kaum reagiert. Ist das Blut wirklich da oder nicht?

JB: Musikalisch ist das Blut da. Und es zieht sich durch die gesamte Oper. Aber ob das Blut wirklich da ist oder nur von Judith gesehen wird, ist nicht zu beantworten. Als symbolistisches Drama stellt das Werk eh mehr Fragen, als es uns Antworten gibt. Diese sind der Vorstellungskraft von jedem Einzelnen überlassen.

Jonathan Bloxham, Foto: Kaupo Kikkas
Foto: Kaupo Kikkas

JM: Die einzigen Protagonisten in der Oper sind Blaubart und Judith. Wie ist der Gesang in der Oper gestaltet? Gibt es feste Formen, Arien, Duette, etc.?

JB: Nein. Der Gesang ist ein freier Fluss. Auch singen die beiden die meiste Zeit getrennt. Das liegt auch daran, dass das Libretto von Béla Balázs ursprünglich als Sprechdrama konzipiert war. Was dort bereits auffällt, sind die vielen Pausen, die grossen Lücken voller Schweigen. Und die hat Bartók respektiert. Im Englischen spricht man von «pregnant pauses», schwangeren Pausen. Also Pausen, aus denen heraus etwas entsteht. Diese gibt es auch in der Oper. In diesen Abschnitten spielt das Orchester allein, während die beiden Protagonisten schweigen und Bartóks Musik den Zuhörer auf eine Reise mitnimmt.

 

JM: In «Herzog Blaubarts Burg» fasst das Orchester im Original fast hundert Musiker*innen. In welcher Fassung wird die Oper in Luzern zu hören sein?

JB: Da der Orchestergraben am Luzerner Theater begrenzt ist, spielen wir die Oper in der Fassung von Eberhard Kloke. Er hat wirklich einen tollen Job gemacht. Denn trotz der Reduktion hören wir alle Schlüsselmomente der Partitur: Es gibt eine Celesta, Harfe und ein grosses Schlagwerk. Die Kloke-Fassung ist zwar eine Reduzierung, aber sie behält den unglaublichen Farbenreichtum der Originalpartitur bei.

 

JM: Neben der Fassung gibt es aber noch eine weitere Besonderheit, die der Inszenierungsidee von Regisseurin Anika Rutkofsky geschuldet ist.

JB: Anikas sehr starke Idee ist, dass der Blaubartmythos, indem er immer wieder neu erzählt wird, eine Gewaltspirale beschreibt, die gestoppt werden muss. In der Inszenierung spielen wir das Stück zweimal: Wir beginnen mit den letzten fünfzehn Minuten und beginnen dann wieder von vorne. Ich habe lange gesucht, um diese Struktur auch musikalisch sinnfällig zu machen. Nach langem Suchen habe ich in New York ein Faksimile zu «Blaubart» gefunden, eine Handschrift von Bartók. Und darin gibt es verschiedene Fassungen für den Schluss der Oper. Also bereits Bartók hat mit dem Ende gekämpft! Wenn wir in dieser Produktion also das erste Mal mit der Oper «enden», hören wir eine Musik, die vorher noch nie gespielt wurde. Es ist sozusagen eine Weltpremiere. Dieser Schluss klingt viel offener als das Originalende, so als würde der Kreis weitergehen. Und in dieser Produktion geht es ja dann tatsächlich weiter. Musikalisch haben wir also eine von Bartók selbst stammende Lösung gefunden, um auch musikalisch den Kreis sinnfällig zu machen, den die Konzeption von Anika auf der Bühne beschreiben möchte.