Francesco Micieli, Versteckt, Luzerner Theater

Francesco Micieli in «Versteckt»

Schauspiel
25. Januar 2023

Francesco Micieli zog 1965 mit seinen Eltern aus einem albanischsprachigen Dorf in Kalabrien ins Emmental. Er studierte Romanistik und Germanistik an den Universitäten Bern, Cosenza und Florenz, arbeitete als Schauspieler, Autor und Regisseur. Micieli unterrichtete lange an der Schule für Gestaltung in Bern sowie im Literaturinstitut in Biel. Heute lebt Micieli als freier Autor in Bern. 

Zur Einstimmung auf «Versteckt» lesen Sie hier einen Auszug aus «Ich weiss nur, dass mein Vater grosse Hände hat – Tagebuch eines Kindes» (Kurt Salchli Verlag, Bern 1988).

 

 

Wahrscheinlich hatte damals meine Mutter
einen grossen Bauch.
Es war Februar.
Sie mag dagelegen haben, wartend, bis die Schmerzen
stärker wurden, Krämpfe, die alle Muskeln erfassten.
Dann, nur vorne, zwischen den schmalen
Oberschenkeln, der Schrei.
Es war Regenzeit
und sie mag sich fest an den Händen der Grossmutter
gehalten haben.
Es ist ein Bub,
sagte die Tante dem Vater, der, eine Nazionali
Esportazioni rauchend, demütig seine Mütze
in der Hand hielt.
Es ist ein Bub,
muss viel später der Arzt gesagt haben.
Gut, sehr gut … ein Bub … nur Buben nützen.
Der Pfarrer mit dem Kreuz und dem Weihwasser sei
auch gekommen, die Augen zum Himmel gerichtet.
Gott hat’s gegeben,
muss er gesagt haben.
Das Ausland hat’s genommen.
 

Mein Vater ist im Ausland.
Wenn man im Ausland ist, ist man weit weg.
Hinter den Bergen.
Und man kann nur einmal im Jahr kommen.
Weil mein Vater weit weg ist, schickt er Geld.
Damit meine Mutter und ich leben können.
 

Ich kenne meinen Vater nicht.
Ich weiss nur, dass er grosse Hände hat
und einen Schnauz.
Und wenn er kommt,
bringt er für mich Schokolade
und für meine Mutter ein Kleid.
Dann sage ich,
danke Vater.
 

Mein Vater arbeitet in der Fabrik.
Die Fabrik ist ein grosses Haus,
grösser als unsere Kirche.
Dort hat es Maschinen.
Mein Vater muss mit diesen Maschinen arbeiten.
In der Fabrik hat es keine Sonne,
weil es keine Fenster hat.
Die Fabrik gehört einem reichen Mann,
wie Don Antonio.
Wenn man in der Fabrik arbeitet, bekommt man Geld.
Mein Vater schreibt,
er wohne an einem Ort,
an dem man nur wenig vom Himmel sieht.
Es ist ein Ort, umgeben von Bergen,
die Angst machen, wenn man allein ist.
 

Meine Mutter kann nicht lesen.
Sie durfte nicht in die Schule.
Sie musste arbeiten.
Der Priester liest ihr die Briefe meines Vaters vor.
Dafür beten wir ein bisschen mehr.
 

Gestern ist ein Paket gekommen.
Von meinem Vater,
der hinter den grossen Bergen arbeitet.
Da war für mich Schokolade drin.
Ich esse sie gern, weil sie süss ist.
Hinter den grossen Bergen gibt es viel Schokolade,
sagt meine Tante.
Grosse Häuser voll.
Die Leute haben dort alle braune Zähne …
deshalb lachen sie selten.
Auch mein Vater lacht nicht auf dem Bild,
wo er im Schnee steht. 
 

Meine Eltern sind gekommen.
Sie haben Ferien.
Sie sind schön angezogen
und haben viele Geschenke mitgebracht.
Mein Bruder und ich dürfen Fleisch aus Büchsen essen.
Eine Kuh ist darauf gezeichnet.
Im Ausland gibt es viel Fleisch,
sagt meine Mutter.
Wir nehmen euch jetzt mit. Dann könnt ihr jeden Tag
Fleisch essen.
Sie weint.
 

Ich kenne meine Eltern nicht mehr.
Sie sind wie fremde Leute,
die viele Geschenke bringen.
Ich will nicht mit meinen Eltern
ins Ausland gehen.
Ich will bei Grossmutter
und Grossvater bleiben.
Sie sind jetzt meine Eltern. 
 

Sie wollen mich ins andere Land mitnehmen.
Die Züge sind immer voll,
sagt meine Mutter.
Wir sind ein Auswandererland.
Wenn man auswandert, muss man eine andere Sprache sprechen.
Man muss auch seinen Pass zeigen, damit sie wissen, wer man ist.
Im anderen Land kann man arbeiten.
Und man bekommt Geld dafür.
Geld für Fleisch und Brot.
Das andere Land ist kalt.
Es ist ein Land ohne Grossmutter und ohne Tante.
Man ist allein.
 

Vor dem Ausland geht der Zug durch ein langes Loch.
Ein Loch durch einen Berg.
Die Ohren schmerzen mir,
weil der Berg so schwer ist.
Für dieses Loch sind viele Menschen gestorben, sagt meine Mutter.
 

An der Grenze muss ich zu einem Doktor.
Ich bin nackt.
Er schaut, ob ich krank bin.
Denn nur gesunde Leute dürfen ins Ausland.
 

Jetzt bin ich im Ausland.
Es ist Winter.
Alles ist voll Schnee.
Ich kann schon ein Wort in der fremden Sprache.
Salü.