ewig jetzt, Luzerner Theater

«ewig jetzt»

Service
11. Mai 2022

Liebes Publikum

Die Überschrift unserer zweiten Spielzeit sollte das widerspiegeln, was uns während der Vorbereitung darauf in den letzten Monaten besonders wichtig war: Wir wollen spürbar machen, dass Theater ein Epizentrum für Stadt und Region sein kann. Von dem aus die Energieimpulse, die auf der Bühne und in der künstlerischen Arbeit entstehen, weitergetragen werden. Der Umgang mit Corona hat in den letzten zwei Jahren um alle persönlichen Begegnungen so etwas wie eine Wattehülle gelegt, uns immer wieder in seltsame Distanz gezwungen. Wir wollten nun dazu einladen, uns wieder als Gemeinschaft zu erleben. Die vordringlichste Aufgabe von Theater.

Tatsächlich? Noch während sich die Watteschicht langsam aufzulösen schien, eröffnete Russland mit dem Angriff auf die Ukraine einen Krieg gegen ein souveränes Land. Spontan haben wir die Veranstaltungsreihe «Stay United» initiiert, in der wir ab Beginn des Ukraine-Kriegs mit Künstler*innen aus unserem Haus und Gästen sowie verschiedenen externen Gesprächspartner*innen in einen Austausch getreten sind. In einem Live-Zoom nach Kiew mit der ukrainischen Theatermacherin Nataliia Vainilovych stand sofort die Frage im Raum, die auch uns selbst bewegt: Wie soll sich das Theater in der aktuellen Situation verhalten? Was können Theaterschaffende mit ihrer Kunst ausrichten? Ihre Antwort: Theater kann in Kriegszeiten einen Teil des sozialen Heilungsprozesses übernehmen. Theater kann die Geschichten der betroffenen Menschen erzählen und die Menschen darin unterstützen, ihren Fokus zu ändern. Denn Theater ist ein Ort, an dem Menschen emotionale Sicherheit gewinnen und Zusammengehörigkeit empfinden können. Auch wenn das in der Ukraine im Moment nur im digitalen Raum möglich ist. Also wieder derselbe Auftrag: Gemeinschaft stiften, Raum schaffen für Geschichten und neue Perspektiven.

«Ewig jetzt» haben wir die Spielzeit 22/23 schliesslich überschrieben. Das ist Widerspruch und Ergänzung zugleich. Im Theater finden wir die Momente, die wir nicht festhalten können, das Flüchtige und Spontane. Gleichzeitig diskutieren wir dort Themen, die in ihrer Zeitlosigkeit immer wieder aktuell sind und bleiben. In der Literatur wird diese ständige Bestätigung im Erleben und Erzählen als Mythos bezeichnet. Thomas Mann sprach in diesem Zusammenhang von «zeitloser Immer-Gegenwart», in der sich der scheinbare Widerspruch von Ewigkeit und Gegenwart auflöst. Motive und Geschichten mit mythischen Qualitäten stiften Verbindungen unter Menschen über die Zeiten hinweg. Doch wenn wir die alten Geschichten auf der Bühne erzählen, tun wir das immer «jetzt», aus unserer gegenwärtigen Perspektive, erlebbar für diejenigen, die live im Theater zusammenkommen. Und in dieser Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit entsteht eine grosse Energie, nicht zuletzt durch die Akteurinnen und Akteure auf der Bühne.
In der Fotostrecke, die die Zürcher Fotografin Lauretta Suter für uns kreiert hat, haben wir nach der Energie zwischen Menschen gesucht. Hier geben sich die Künstlerinnen und Künstler unseres Ensembles Impulse weiter oder widerstehen ihnen, halten einen Augenblick inne. Sofort entstehen kleine Geschichten, irritierende Momente, die uns genauer hinschauen lassen – fast wie auf der Bühne.

«Ewig jetzt» – unser Spielzeitthema formuliert das Um-sich-Kreisen menschlicher Horizonte und Empfindungen, die ewigen Kreisläufe der Welt, die Zyklen physischer und metaphysischer Gesetze. Es erzählt vom unerklärbaren Paradox der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sich widersprechend und dennoch ergänzend.
In Bartóks «Herzog Blaubarts Burg» begegnen wir dem Märchenmotiv vom Frauen mordenden Herzog als psychologisches Kammerspiel. Die Regisseurin Anika Rutkofsky, ausgezeichnet mit dem renommierten Opernregie-Preis RINGAward, sieht in diesem Werk einen ewig sich wiederholenden Kreislauf, der durchbrochen werden muss.
Und in Tschaikowskis «Eugen Onegin» wird uns die alte Geschichte der verpassten Chancen in einer Musik offenbar, deren Emotionalität uns direkt erreicht. Der Untertitel «Lyrische Szenen» verweist auf die Wiederholungen, die uns das «Ewige im Jetzt» spiegeln.
Vor dem aktuellen Hintergrund haben wir uns natürlich die Frage gestellt, inwieweit wir unseren längst festgelegten Spielplan hinterfragen und damit ein Werk eines russischen Komponisten zur Disposition stellen müssen, selbst wenn es vor fast 150 Jahren komponiert worden ist. Aber wir glauben daran, dass wir auf unserer Bühne die Auseinandersetzung mit der Vielfältigkeit und Komplexität der Welt und unserer Themen führen müssen und wollen, sei es durch die Werke selbst oder die Haltung, mit der wir an sie herantreten.

Co-Operndirektorin Lydia Steier nimmt sich mit Richard Strauss’ «Der Rosenkavalier» ein Stück vor, bei dem das Nachdenken über die Zeit im Zentrum steht. «Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie», konstatiert die Feldmarschallin. Der Kreislauf des Sich-Verliebens und Abschiednehmens, der Traum einer utopischen weltentrückten Zukunft, wird in der Zusammenarbeit von Hofmannsthal und Strauss durch die Erkenntnis der Vernunft in eine «lebbare» Gegenwart geführt.
Unsere Komponistin in Residence kommt in dieser Spielzeit aus Norwegen: Maja S. K. Ratkje forscht in ihrer Komposition «What are the words to us?» den Urworten nach, die in allen indogermanischen Sprachen vorkommen und Kulturen verbinden oder trennen.
Gleich zu Beginn der Saison denken wir über unsere eigene Endlichkeit nach – aber nicht betrüblich und schwer, sondern leicht und mit einem Schmunzeln. In Kooperation mit LUCERNE FESTIVAL laden wir Sie zu einem musiktheatralen Spaziergang durch das alte Krematoriumsgelände im Friedhof Friedental ein. «Ewig jetzt» bekommt da einen ganz eigenen Klang.
Die renommierte Bühnenbildnerin Barbara Ehnes wird am Luzerner Theater ihr Regiedebüt geben und die Barockoper «ALCINA » von Georg Friedrich Händel auf ihren Utopiegehalt befragen. Am Ende der Spielzeit schliesslich feiern wir mit Jacques Offenbach ein dreiwöchiges Theaterfest am Ufer des Vierwaldstättersees.

«Je planmässiger Menschen vorgehen, desto wirksamer trifft sie der Zufall», heisst es in Dürrenmatts «Das Versprechen». Ein einzelner Moment – und nichts ist mehr wie vorher. Davon handelt das Theater immer wieder: von der Unberechenbarkeit des Lebens, von glücklichen oder tragischen Wendepunkten und vom Neubeginn.
Parallel zu diesem Schweizer Klassiker präsentiert das Schauspiel eine Neuentdeckung: «Swallow» der britischen Autorin Stef Smith. Mit dieser Schweizer Erstaufführung verfolgen wir weiter die Fragen nach Identität, Gender und Zugehörigkeit und zeigen drei Frauen, die mit Mut ihre eigenen Wege gehen.
Das berühmte «Bildnis des Dorian Gray» von Oscar Wilde führt besonders eindrücklich den Irrsinn von Schönheitswahn und Selbstoptimierung vor. Dass man dem Menschen von aussen seine Verfehlungen nicht ansehen kann, hat auch Henrik Ibsen in seinen Stücken immer wieder beschrieben. Für diesen Autor und sein Stück «Stützen der Gesellschaft», das Schauspieldirektorin Katja Langenbach auf die Bühne bringen wird, gilt ganz besonders «ewig jetzt». Denn so lange es Familien und Ehen gibt, so lange werden die Lebenslügen des Bürgertums uns etwas angehen.
In der zweiten Hälfte der Spielzeit schlagen wir mit mehreren Uraufführungen den Bogen von der Historie zum Heute. Wagners «Der Ring des Nibelungen» wird mit «Bad Girls», dem zweiten Teil der spartenübergreifenden Wagner- Tetralogie «Das Ring-Ding», auf seine Aktualität überprüft.«Die Walküre» bietet hier den Ausgangspunkt für ein energiegeladenes, junges Schauspiel mit viel Musik.
Die dokumentarische Theaterlinie setzen wir fort mit der interdisziplinären Produktion «Ich, aber anders» von Anna Papst. Die Autorin stellt Menschen die Frage, warum sie sich gerne verkleiden und als was.

TanzLuzern hat mit den Produktionen der ersten Spielzeit bereits vermittelt, was wir in Luzern auch in den kommenden Jahren gerne zeigen möchten: Bewegungskunst auf höchstem Niveau, mit einer grossen Vielfalt an Spielarten, Formaten, Stilen und Arbeitsweisen. Die Begeisterung, mit der sich die Ensemblemitglieder immer wieder neu auf die Gastchoreografinnen und -choreografen einlassen, soll sich weiterhin in unterschiedlichen Programmen auf das Publikum übertragen. Denn auch in der kommenden Spielzeit werden die eingeladenen Choreograf*innen Uraufführungen zusammen mit unseren Tänzerinnen und Tänzern kreieren. Freuen Sie sich darauf, wenn sich Marion Zurbach aus Frankreich und Tom Weinberger aus Israel «stimmlich» begegnen. Yabin Wang aus China arbeitet gegen Ende der Spielzeit an unserem Haus: Ihr ausgefallener Besuch der vorherigen Saison wird nun mit einer abendfüllenden Produktion mit Orchester nachgeholt. Und auch unsere Ensemblemitglieder werden sich unter dem Titel «Next Matters» mit neuen Stücken choreografisch auf den eigenen Weg machen.

In allen Sparten steht auch unser junges Publikum immer wieder im Zentrum. Für die Jungen und Jüngsten haben wir in der letzten Spielzeit das Junge Luzerner Theater gegründet und bauen dafür kontinuierlich unser Programm aus – spielerisch, forschend und neugierig. Mit «Die Schneekönigin» präsentieren wir ab November das grosse Familienstück, das in diesem Jahr in der Verantwortung des Musiktheaters liegt. Andersens Märchen ist ein Stück über das Erwachsenwerden, über das Zu-sich-Kommen und das Erkennen der eigenen Stärken. «An der Arche um Acht» von Ulrich Hub nimmt sich mit Leichtigkeit den grossen Fragen nach Gott und der Welt an. Die Schauspiel-Uraufführung «Versteckt» von Ariane von Graffenried und Martin Bieri beschäftigt sich mit dem Schicksal von «Schrankkindern», die in den 1960er Jahren illegal als Kinder von Saisonarbeitern in die Schweiz gekommen und dort von ihren Eltern versteckt worden sind.

Was Erfolg oder Misserfolg für junge Menschen bedeutet, erforschen der Choreograf Luca Signoretti und TanzLuzern in engem Austausch mit einer Luzerner Schulklasse. Mit «Zick Zack Puff» zeigt Teresa Rotemberg, Co-Leiterin des Jungen Luzerner Theaters, ein Tanzstück ihrer Company Mafalda für alle ab fünf Jahren. Sibylle Grüter und Jacqueline Surer entwickeln als Leiterinnen des Figurentheaters neben ihren vielfältigen Produktionen für jüngeres Publikum auch den Audio-Rundgang «Auf leisen Ohren».
Darüber hinaus: Kinder, die in unserer ersten Spielzeit geboren worden sind, können unsere Patenkinder werden! In den nächsten Jahren wollen wir sie mit unserem Programm begleiten. In dieser Spielzeit geht es los mit einem «Krabbelkonzert» im Foyer.

Die letzten Wochen haben uns darin bestärkt, dass das gemeinsame Erleben von Kunst und Kultur in einer Zeit wie dieser vielleicht noch wichtiger ist als sonst. Und dass wir als Theater im Sinne unseres humanistischen Auftrags weiterhin die Komplexität der Welt in Geschichten fassen müssen, um für Demokratie und Toleranz einzustehen. Wir wollen uns mit offenem Herzen auf diese Reise machen. Gemeinsam mit Ihnen in eine aufregende Spielzeit 22/23: ewig jetzt!

Ihre Ina Karr und Team